NÜRNBERG – Die Lage in Alten- und Pflegeheimen ist für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen eine seelische Belastung. Zu Corona-Zeiten noch viel mehr als sonst. Denn oft sind die Bewohner isoliert. Eine Betroffene berichtet. Doch die Politik verspricht baldige Lockerungen.
Jeden Tag hat Elisabeth Ranzmeyer ihre Mutter im Pflegeheim besucht. Sie ist mit ihr im Rollstuhl spazieren gegangen, hat ihr vorgelesen. Täglich, zwei Stunden lang. Dann kam Corona.
Seit Corona ist alles anders. Tochter und Mutter dürfen nur noch eine Stunde in der Woche Zeit miteinander verbringen. Die Mutter fühlt sich allein. Sie ist 97 Jahre alt, blind und schwerhörig, sie hat den Pflegegrad 4. Das schildert die 68-jährige Tochter, die in Neuendettelsau wohnt, am Telefon. Ihr Schicksal steht exemplarisch für die Situation vieler Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen in Corona-Zeiten.
Seit März nicht mehr draußen!
Nun will Elisabeth Ranzmeyer ihrer Mutter zumindest in der einen Stunde Besuchszeit eine Freude bereiten – und sie raus bringen. Doch das erlaubt die Heimleitung wegen der strengen Hygienevorschriften nicht. Im März hat die Bewohnerin die Einrichtung zum letzten Mal verlassen. Seitdem verbringt sie den Großteil des Tages allein auf ihrem Zimmer. Ohne Buch, ohne Fernseher.
“Seit drei Monaten sind die Bewohner nur noch drinnen”, ist Ranzmeyer fassungslos. Nicht mal auf den Gemeinschaftsbalkon dürften sie, weil es zu kalt sei – wie die Pflegekräfte den Bewohnern erklären würden. “Die Lebensqualität wird immer weiter beschnitten.” Dabei scheine die körperliche Unversehrtheit an erster Stelle zu stehen, während die seelische zurückstecken müsse.
Und so verbringen Mutter und Tochter die eine so wertvolle Stunde mit zwei Metern Abstand in der Eingangshalle – nebst den anderen. “Da ist keinerlei Vertraulichkeit gegeben.” Seit drei Monaten hätten sie beide kein vertrauliches Gespräch miteinander führen können, immer sei jemand um sie herum. Da falle es noch schwerer, darüber zu sprechen, wie es einem wirklich geht. Hinzu kommen die Kommunikationsprobleme mit der Maske, die Schwerhörige besonders trifft. Ihr Hörgerät verheddert sich ständig mit den Schnüren. Auch Telefonate gestalten sich dadurch schwierig.
Die 68-Jährige betont, dass sie den Druck der Mitarbeiter verstehe. Außerdem kommt der Druck auf die Heimleitung hinzu, bloß nicht zum Corona-Hotspot zu werden. Das gibt Negativschlagzeilen. So hatten sich Mitte Mai in einer Seniorenresidenz in Etzelskirchen im Landkreis Erlangen-Höchstadt 29 Bewohner und elf Mitarbeiter infiziert. In Bremen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ein Pflegeheim wegen fahrlässiger Körperverletzung, nachdem sich dort Bewohner und Angestellte angesteckt hatten.
Wer haftet im Falle eines Ausbruchs?
Wer haftet also im Falle eines Ausbruchs? Eine Sprecherin des Bayerischen Gesundheitsministerium antwortet, dass man das im Einzelfall klären müsste. “Ein Ausbruchsgeschehen in einer Einrichtung führt nicht unmittelbar und zwingend zu einer Haftung.”
In einem offiziellen Papier empfiehlt die Regierung, dass “Einrichtungen mit Besuchern sensibel umgehen sollen”. Dabei sei ein höchstmöglicher Infektionsschutz aufrechtzuerhalten. All diese Handlungsempfehlungen lassen den Verantwortlichen der Heime also viel Spielraum.
Gestern verkündete der bayerische Ministerpräsident Lockerungen, darunter auch in Heimen – wenngleich sie “nach wie vor zu den gefährlichsten Orten zählen”. Dazu wird das Gesundheitsministerium in Abstimmung mit dem Sozialministerium Vorschläge erarbeiten, wie es auf Nachfrage heißt. “Ziel sind weitgehende Erleichterungen bei den Besuchsregelungen.”
Günter Beucker ist Geschäftsführer der Diakonie Mögeldorf. Er begrüßte die strengen Vorgaben der Regierung, die “rigiden Besucherströme” einzustellen. Doch er betont zugleich, dass der Umgang mit Viren das tägliche Brot der Pflege sei – schon vor Corona. Was er von der Politik nun fordert? “Corona hat uns brutal aufgezeigt, unter was für einem Druck die Pflege arbeitet.” Er wünscht sich, dass diese Feststellung nicht vergessen wird.
Die Mutter von Elisabeth Ranzmeyer fühlt sich derweil weiterhin ausgeliefert. “Sie gehorcht den Pflegerinnen, weil sie nicht unangenehm auffallen möchte”, so die Tochter. Die heutige Zeit wecke bei der Mutter böse Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie empfinde Angst. Aber nicht vor Corona. Sondern vor Einsamkeit, Isolation und Willkür.
Quelle: nordbayern.de