Bei Corona-Protesten gehe es auch um Umsturzfantasien, sagt Pia Lamberty. Eine kritische Auseinandersetzung darüber gebe es unter den Demonstranten nicht
Corona-Leugner und Impfgegner radikalisierten sich in den letzten Monaten immer mehr. Das zeigt sich nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch bei Bedrohungen von Ärzten oder Bürgermeistern. Für den österreichischen Verfassungsschutz stellen die Corona-Leugner derzeit die größte Bedrohung für die Sicherheit dar.
Sozialpsychologin Pia Lamberty beobachtet die Szene im deutschsprachigen Raum schon lange. Sie erklärt, welche Auswirkungen der Verschwörungsglaube Einzelner auf die Gesellschaft als Ganzes hat, wann man in einer Demokratie rote Linien ziehen sollte und was die Sicherheitsbehörden bisher verabsäumt haben.
STANDARD: An den Protesten gegen Corona-Maßnahmen beteiligen sich immer mehr Menschen. Woran liegt das?
Lamberty: Mit den steigenden Zahlen werden auch schärfere Maßnahmen beschlossen, das Thema bekommt also neue Relevanz. Rechtsextreme nutzen Krisensituationen häufig für sich aus und versuchen, Leute auf ihre Seite zu bringen. Das sieht man in der Pandemie oder hat man zum Beispiel auch während der Flutkatastrophe in Deutschland gesehen. Da eignet sich die Phase jetzt besser als der Sommer, um auf die aktuellen Entwicklungen zu reagieren und die Maßnahmen als Teil des absolut Bösen darzustellen. Missmanagement bei der Pandemie kann zusätzlich insgesamt das Vertrauen untergraben.
STANDARD: Sind die Rechten damit erfolgreich?
Lamberty: Die Strategie funktioniert häufig leider gut. Auch wenn manche Demonstrierende keine rechtsextreme Ideologie vertreten, laufen sie gemeinsam für die Sache. Sowohl in der Politik als auch in den Behörden ist die Reaktion darauf sehr verzögert. Wir drehen uns im Kreis, diskutieren Fragen wie: Das sind nicht alle Nazis, müssen wir ihnen nicht die Hand reichen? Davon profitieren Rechtsextreme natürlich.
STANDARD: Wie kann man die Bewegung charakterisieren?
Lamberty: Zum einen würde ich davor warnen, allein vom Aussehen auf die politische Einstellung zu schließen. Ein gutes Beispiel ist der Sturm auf den Reichstag: Maßgeblich beteiligt war eine Heilpraktikerin, die in Reichsbürgerstrukturen unterwegs ist. Wenn man die von außen sieht, hätte man ein ganz anderes Bild. Es gibt Leute mit Dreadlocks und alternativem Aussehen, die in rechtsextremen Strukturen verankert sind. Es gibt zum Beispiel auch Personen, die aus dem Esoterikspektrum kommen, bei denen es angeblich um Liebe und Freiheit geht, die aber trotzdem menschenverachtende Positionen verbreiten. Die ideologische Klammer ist die verschwörungsgeprägte Sicht auf die Welt: Die Impfung bringt den Tod, die Regierung erlässt die Maßnahmen nicht wegen des Virus, sondern hat eine andere Agenda. Und zum anderen waren vielleicht auch die Durchschnittsbürger nie so unschuldig, wie man das gerne hätte. Radikalisierung der Mitte bedeutet auch, dass es einen größerem Raum gibt für Aussagen, die man vorher als problematisch verstanden hätte.
STANDARD: Man könnte ja auch sagen: Jeder soll glauben, was er will. Welche Rolle spielt es für die Gesellschaft, wenn immer mehr Menschen in Verschwörungsglauben abdriften?
Lamberty: Der Verschwörungsglaube hat Konsequenzen. Wir wissen, dass Verschwörungsgläubige sich weniger impfen lassen, sich weniger an Maßnahmen halten und gewaltaffiner sind. Sie sind auch egozentrischer und haben eine geringere Gemeinwohlorientierung. Das ganze Paket macht was mit einer Demokratie. Radikale Impfgegnerinnen und Impfgegner strahlen zudem auf Zögerliche und Ängstliche aus.
STANDARD: Wie rutscht man da rein?
Lamberty: Menschen, die eine starke Tendenz zu Verschwörungen haben, haben ein starkes Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Hegt man dieses Weltbild, kann man sich über andere stellen. In der Pandemie kann man sich als Held seiner Widerstandsgeschichte inszenieren. Man braucht nur keine Maske zu tragen. Es ist eine fragile Form der Selbstüberhöhung. Und das geht auch mit einer Feindseligkeit gegenüber anderen einher. Aus der Esoterik gibt’s ähnliche Befunde: Dort geht es oft um ein spirituelles Überheblichkeitsgefühl – zu glauben, man sei erleuchteter als der Rest der Welt.
STANDARD: Ab wann ist eine Person nicht mehr erreichbar?
Lamberty: Da muss man zwischen dem privaten Umfeld und der Gesellschaft unterscheiden. Die beste Chance, jemanden zu beeinflussen, hat man durch eine persönliche Beziehung. Doch das dauert und ist aufwendig. Und was die Gesellschaft betrifft: In einer Demokratie muss es rote Linien geben, und das nicht erst beim Strafrecht. Ich setze diese Linie dann, wenn menschenverachtende Äußerungen getätigt werden und wenn Falschinformation verbreitet wird. Dann ist es auch okay, zu sagen: Da schließe ich jetzt eine Tür. Das heißt nicht, dass das für immer sein muss. Aber wenn sich jemand einen sogenannten Judenstern anheftet, dann ist das erst mal keine Grundlage mehr zum Diskutieren.
STANDARD: Inwiefern ist es eine politische Bewegung, die sich hier formiert? Oder befindet sich ein Großteil in einem Wahn – oder beides?
Lamberty: Das schließt sich nicht aus. Populistische Bewegungen sind oft sehr diffus, es gibt in der Regel keinen Zehn-Punkte-Plan. Sondern es geht darum, wer der Feind ist. Politisch ist die Bewegung, weil versucht wird, eine andere Form von Gesellschaft zu erreichen. Es geht auch um Umsturzfantasien. Das unterstützen manche aktiv, andere nehmen es in Kauf. Eine kritische Auseinandersetzung darüber unter den Demonstranten gibt es nicht.
STANDARD: Wie ist das aus psychologischer Sicht zu betrachten, wenn die Bewegung ihre Ziele nicht erreicht? Handelt es sich bei den Gewalt- und Todesdrohungen, die man aus dem Milieu kennt, um leere Phrasen, oder sollte man das ernst nehmen?
Lamberty: Viel wird schon Realität. Es gibt Gewalt im Alltag, die in Bezug zur Pandemie steht. Menschen, die Maßnahmen durchsetzen müssen, werden damit alleingelassen. Ärzte, die bedroht werden, Testzentren, die geschlossen werden, mobile Impfteams, die nur mehr mit Polizeischutz arbeiten können. Ich blicke mit Bauchschmerzen auf die nächsten Monate. Es wird immer wieder von Notwehr gesprochen, dadurch wird Gewalt legitimiert. Bei denen, die sagen, die Regierung will uns mit der Impfung umbringen, kann die Einführung einer Impfpflicht zu einer Verstärkung der Gewalt führen. Das ist kein Argument gegen die Impfpflicht, deren Einführung mit Aufklärung und Kommunikation begleitet werden muss. Aber eine Warnung, so was mitzudenken.
STANDARD: Unterschätzen die Sicherheitsbehörden die Lage?
Lamberty: Zumindest was Deutschland betrifft, habe ich das Gefühl, dass man eher so den Ansatz gefahren hat: Lasst die mal machen und dann wird das Problem schon wieder verschwinden. Man wollte durch restriktive Reaktionen die Demos nicht befeuern. Das war falsch. Die Strafverfolgung wurde teilweise verschlafen. Bei Demos wurde zu wenig eingegriffen, die Presse viel zu wenig geschützt.
STANDARD: Braucht es mehr Repression?
Lamberty: Das ist ein Tool von vielen. Es braucht auch eine Politik, die sich klar positioniert. Mit einem Schlingerkurs kommen wir nicht weiter. Es braucht aber auch eine aktive Zivilgesellschaft. Bei Pegida zum Beispiel gab es stärkere Gegenproteste. Langsam ändert sich das aber auch, wie man an der Aktion #YesWeCare in Wien sehen konnte. (Vanessa Gaigg, 2.1.2022)